Veränderung und Verantwortung

Erinnerungen an meinen Beraterkollegen, Mentor und guten Freund Dietrich Stobbe
von Dr. Silvio Döring, Managing Partner quattron management consulting

Im Frühjahr 1993 kam es in Berlin zu einer in dieser Konstellation recht ungewöhnlichen und meinen weiteren Lebensweg stark prägenden Begegnung.

Es war die Zeit, in der die Euphorie der Freiheit und die Abgründe des Verfalls in dieser Stadt täglich aufeinander prallten. Die Zeit, in der Berlin zu alter politischer Bedeutung zurückzufinden begann, während sich parallel die Trugbilder eines sozialistischen Wirtschaftssystems in der Realität des Marktes auflösten. Berlin war in dieser Zeit zugleich Aufbruch und Niedergang, Neuanfang und Abwicklung. Für eine international agierende Unternehmensberatung herrschten im Berlin der frühen 1990er somit gleich im doppelten Sinne optimale Ausgangsbedingungen. Geld wird im Top Management Consulting stets durch Veränderung verdient. In Zeiten des Wachstums unterstützen Berater Unternehmen und Institutionen dabei, die Trends der Märkte zu erkennen, die vorhandenen Ressourcen optimal zu allokalisieren und das Wachstum in den Organisationen beherrschbar und nachhaltig gewinnbringend zu gestalten. Doch auch Zeiten des Abschwungs sind keine schlechten Zeiten für Berater. Dann gilt es in den Geschäftsmodellen ihrer Kunden die Spreu vom Weizen zu trennen und durch eine gezielte Restrukturierung die Grundlage für neues Wachstum zu schaffen.

Von daher war es folgerichtig, dass sich Anfang der Neunziger mit Arthur D. Little auch eine der ältesten und renommiertesten amerikanischen Beratungsgesellschaften entschlossen hat, nach Berlin zu kommen. Ein repräsentatives Büro am Kurfürstendamm war schnell gefunden und nun galt es, ein optimales Team für Berlin zu formen. Neben mehreren erfahrenen Beratern und Managern suchte man nach einer Persönlichkeit mit besten Kontakten in die Bundespolitik wie auch in das ganz spezifische Umfeld der Berliner Politik und Wirtschaft. Eine Persönlichkeit mit einem tiefen Verständnis des „deutschen Denkens“ in Politik und Wirtschaft, aber auch mit einer hohen Offenheit für die amerikanische Art des Managements. Mit Dietrich Stobbe wurde eine solche Persönlichkeit gefunden.

Im Frühjahr 1993 begegnete ich Dietrich Stobbe zum ersten Mal. Ich hatte gerade meine Prüfungen zum ersten juristischen Staatsexamen abgeschlossen und wollte die mehrmonatige Wartezeit bis zur Veröffentlichung der Examensergebnisse mit einem Praktikum bei einer großen Unternehmensberatung nutzen. Mehr durch Glück und Zufall verschlug es mich zu Arthur D. Little nach Berlin. Dort überlegte man zunächst, was mit einem angehenden Juristen anzufangen wäre, und kam schließlich auf die Idee, mich den Projekten Dietrich Stobbes zuzuteilen. Aus seiner Zeit als Regierender Bürgermeister war er den Umgang mit Juristen gewohnt und würde mich sicherlich sinnvoll einzusetzen wissen. So fand ich mich plötzlich in der spannenden Aufgabe wieder, gemeinsam mit Dietrich Stobbe und dem späteren Board Member von Arthur D. Little, Thomas Jobsky, ein Konzept zur Gründung einer Strukturfördergesellschaft für die Restrukturierung der vom Braunkohletagebau zerstörten Landschaften in Westsachsen zu entwickeln.

Bereits damals erläuterte mir Dietrich seine ganz persönliche Beratungsphilosophie, die er über viele Jahre erfolgreich praktizierte: „Bevor du mit Struktur und Methodik auf einen Kunden losgehen kannst, musst du sein Problem verstehen. Nicht nur die fachliche, sondern auch die menschliche und politische Dimension seines Problems. Erst wenn du die Ebene hinter den Zahlen und Prozessen verstanden hast, wenn du dich den Interessen und dem Denken der Menschen näherst, für die du arbeitest, werden sie sich öffnen und dir den Raum schaffen, wirklich erfolgreich agieren zu können. Erst dann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem du mit fachlich sauberer Methodik auch wirklich überzeugen kannst.“

Mit dieser Philosophie entwickelte sich Dietrich in der Beratung - wie zuvor schon in der Politik - zu einem „Menschenfänger“ im allerpositivsten Sinne. Er verstand es, unvoreingenommen auf die Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören und offene Diskussionen zu führen - immer bestrebt, die beste Lösung zu finden und alle Beteiligten dabei mitzunehmen. Das Denken in Schubläden war ihm fremd. So gehörte es zu seinen besonderen Fähigkeiten, auch harte Entscheidungen überzeugend zu kommunizieren, wenn er von der Richtigkeit des Lösungswegs überzeugt war.

Für Dietrich hatte Wirtschaft stets eine politische und Politik stets auch eine wirtschaftliche Bedeutung. Dietrich bekannte sich stolz zu seinen sozialdemokratischen Wurzeln und doch war die politische Dimension seiner Arbeit als Berater nicht mit Parteipolitik gleichzusetzen, sondern mit gesellschaftlicher Verantwortung. So überraschte es kaum, dass häufig auch konservativ geführte Kommunen ihn als Berater wählten, wenn es darum ging, Veränderungen in ihren kommunalen Betrieben umzusetzen und dabei alle Beteiligten einzubinden. Es war Dietrich wichtig, dass Manager und Berater die politische Dimension wirtschaftlichen Handelns erkannten. So bereiteten ihm auch unsere gemeinsamen politischen Diskussionen große Freude, auch wenn meine politischen Vorbilder nicht Willy Brandt, sondern Franz-Josef Strauß und Otto von Habsburg hießen. Am Ende stellte sich meist heraus, dass unserer Positionen im Kern oft gar nicht weit voneinander entfernt waren, teilten wir doch gleiche Grundüberzeugungen: Freiheit, soziale Verantwortung sowie die Überzeugung, dass alles von Gott gegeben ist und wir ihm vertrauen können. Mit diesem Fundament ließ sich nicht nur erfolgreich Politik gestalten, sondern auch nachhaltig wirtschaftlicher Erfolg erzielen.

Wie erfolgreich dies Dietrich gelungen ist, hat er bewiesen, als er sich nach einigen Jahren bei Arthur D. Little selbständig machte und gemeinsam mit Fritjof Sachs die Berliner Beraterdienste gründete, aus denen später die Beratungsgesellschaft SNPC Stobbe Nymoen und Partner hervorging. Auf meine Frage, was ihn getrieben habe, noch einmal als Unternehmer ganz von vorn anzufangen, antwortete er schmunzelnd: „Es gibt viele führende Sozialdemokraten, die nach ihrer politischen eine erfolgreiche Karriere in der Wirtschaft begonnen haben. Aber nur wenige, die es gewagt haben, selbst als Unternehmer Verantwortung zu übernehmen. Es hat mich gereizt, gerade diese Herausforderung anzunehmen.“

Dabei war Dietrich nicht nur mit seinem eigenen Unternehmen sehr erfolgreich, sondern hat auch anderen bei ihrem Start ins Unternehmerdasein geholfen. So ist es nicht zuletzt Dietrich zu verdanken, dass ich mit meinen beiden Partnerkollegen, Stefan Lossau und Manfred Sedello, im Jahr 2012 das zehnjährige Bestehen unseres Beratungshauses quattron management consulting feiern kann, dem Dietrich bis zu seinem Tod als Gesellschafter, kluger Ratgeber und vor allem als guter Freund verbunden war.

Für mich persönlich hat die Begegnung mit Dietrich im Berlin des Jahres 1993 viel verändert. Sie hat mir neue Perspektiven und Wege eröffnet und mich bestärkt, diese selbst und aus eigener Überzeugung zu gehen.