25 Jahre Berliner Kellerrunde, Festveranstaltung am 24. Oktober 2009

Grußwort Dietrich Stobbe, Regierender Bürgermeister von Berlin, a.D.

Liebe Mitglieder der Berliner Kellerrunde,
liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gäste,
liebe Frau Naulin, lieber Gerhard,

es ist mir eine große Freude und auch eine große Ehre, an unserem Festtag zu Ihnen sprechen zu dürfen. Zunächst einmal möchte ich uns allen gratulieren, dass diese Gemeinschaft nunmehr 25 Jahre besteht und, wie ich ausdrücklich feststellen möchte, segensreich wirkt.

Gerhard Naulin hat mich gebeten, einige Anmerkungen zum Thema „Gesellschaftliches Engagement und Deutsche Einheit“ zu machen und damit über einen noch nicht abgeschlossen Prozess zu sprechen. In dem Brief, mit dem er uns alle auf diese Festveranstaltung einschwor, zitierte er Willy Brandt mit seinem berühmten Satz: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“. Dieser Satz hatte und hat für mich eine ganz besondere Bedeutung.

Am 10. November 1989 hatten Willy Brandt und ich nach den am Abend zuvor einlaufenden Meldungen über den Fall der Mauer als Bundestagsabgeordnete die Frühmaschine von Bonn nach Berlin genommen. Zusammen fuhren wir mit dem Auto vom Flughafen Tegel direkt zum Brandenburger Tor. Dort hatten sich viele Menschen auf der Mauer sitzend oder stehend versammelt, die wohl alle spürten, dass die Freiheit nahe war. Brandt und ich standen da und waren genauso überwältigt wie die Menschen aus dem anderen Teil der Stadt.

Anschließend begleitete ich Willy Brandt im Auto vom Brandenburger Tor zum Rathaus Schöneberg, wo wir an einer Sitzung der SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses teilnehmen wollten. Danach sollte auf dem Kennedyplatz eine Kundgebung stattfinden, bei der auch Brandt eine Rede halten sollte. Im Fond des Wagens sitzend, zückte Willy Brandt seinen Füller, zog ein kleines Notizbuch aus der Westentasche und schrieb ein paar Zeilen. Er zeigte sie mir: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Da stand er, der Satz.

Diesen Satz hatte er später vor dem Rathaus auch tatsächlich gesprochen, bei der im Übrigen total verunglückten Kundgebung.

Die ganze Erfahrung von Brandts langem Politikerleben kommt in diesem Satz zum Ausdruck; denn Zusammenwachsen ist nicht identisch mit einem Urknall, der schlagartig gänzlich Neues hervorbringt. Er ist auch nicht identisch mit einer Zwangsvereinigung, in der zusammengefügt wird, was eigentlich gar nicht vereinigt werden will. Brandt wusste sofort, dass die Einheitswerdung der Deutschen einen langen Prozess nach sich ziehen würde, eben den des Zusammenwachsens von zwei Teilen, die jahrzehntelang unterschiedliche Entwicklungen genommen hatten.

Dieser Prozess war und ist in keinster Weise ausschließlich auf der staatlichen und administrativen Ebene zu gestalten. Er bedarf des tatkräftigen gesellschaftlichen Engagements von vielen, von den einzelnen Bürgern und den unterschiedlichen Gruppierungen, die sich in unserer  demokratischen Gesellschaft bilden.

Die Berliner Kellerrunde ist eine solche Gruppierung, die sich mit hohem gesellschaftlichen Engagement und nie erlahmender Tatkraft in diesen Prozess der Einheitswerdung eingebracht hat. Man muss sich einmal ihr Programm der letzten Jahre anschauen. Da reiht sich Besuch an Besuch und Begegnung an Begegnung. Es wurde genutzt, was sich angesichts der Möglichkeiten und Chancen der Einheit nunmehr darbot. Die Kellerrunde war wissbegierig. Sie wollte kennenlernen und erfahren, was in den neuen Bundesländern entstanden war und was neu entsteht. Und sie wollte mit den Menschen zusammenkommen, die im Prozess der Einheitswerdung in diesen Institutionen und an diesen Orten Verantwortung hatten oder neu übernahmen.

Was Willy Brandt in jenem Satz ausdrückte, das hat die Kellerrunde wahrhaftig gelebt. Wer einmal dabei war, wie ein Jahresprogramm der Kellerrunde entsteht, konnte nur staunen. Da gab es keinen Vorstand, der etwas verordnete. Stattdessen sammelte Gerhard Naulin als Vorsitzender in seiner ruhigen Art die Eigeninitiativen und Vorschläge einzelner Mitglieder ein, und diese wurden nach nur kurzer Diskussion zum Programm erhoben und dann später umgesetzt.

Auf dieses aus freien Stücken heraus erbrachte Engagement der einzelnen Mitglieder des Freundeskreises, aber auch der ganzen Gruppe, darf die Berliner Kellerrunde, so meine ich, wirklich sehr stolz sein.

Aber wir sind uns, so glaube ich, auch alle bewusst, dass dieses Langzeitengagement über 25 Jahre ohne die kluge und weise Führungsarbeit von Gerhard Naulin und seiner Frau niemals zustande gekommen wäre. Er war und ist der Mann, der alles mit nie nachlassendem Elan zusammenhielt und –hält und die Kellerrunde zu jenen Gruppenleistungen vorantrieb, auf die wir heute voller Freude und einer guten Portion Genugtuung zurückblicken dürfen. Ich bin mir sicher, im Namen aller Mitglieder zu sprechen, wenn ich Deiner Frau und Dir, lieber Gerhard, unseren allergrößten Dank ausspreche.

Aber der Prozess der deutschen Einheitswerdung geht weiter und ist noch längst nicht abgeschlossen. Er benötigt auf der gesellschaftlichen Ebene viele Freundeskreise dieser Art  in Deutschland, um ihn ohne Verwerfung zur Reife zu bringen. Das notwenige Engagement ist gewiss an vielen Stellen da, aber an all zu vielen Stellen hapert es gewaltig.

Es geht Ihnen sicherlich so wie mir. Man trifft immer noch auf Westdeutsche, die noch nie in Berlin, Leipzig oder Dresden waren, oder die insgesamt kein Interesse an den neuen Bundesländern zeigen. Meine Frau und ich haben mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen müssen, dass Westberliner uns kritisch zuriefen: „Was, ihr seid in den Osten gezogen!?“, nur weil wir eine Wohnung in Berlin-Mitte bezogen haben. Also, es bleibt immer noch viel zu tun, um Berührungsängste abzubauen.

Im Prozess der Einheitswerdung müssen wir uns vor aller Dingen immer wieder bewusst machen, welche geschichtlichen Faktoren die deutsche Frage offenhielten, damit es zu den Bürgerbewegungen in der DDR und zu den Rufen „Wir sind das Volk“ kommen konnte. Diese Faktoren waren:

  • Erstens: der Viermächtestatus von Berlin, der eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür war, dass es zu den Zwei-plus-vier-Verträgen und damit zur Deutschen Einheit kommen konnte;
  • Zweitens: der Freiheitswille der Berliner  im Westteil der Stadt, der letzten Endes die Ursache dafür war, dass die drei Westmächte über Jahrzehnte Schutzmachtfunktionen für den freien Teil der Stadt übernahmen und der auch den Bund dazu verpflichtete, die wirtschaftliche Existenz der Halbstadt zu sichern;
  • Drittens: die deutsche Entspannungspolitik, die zwar das geteilte Land und die geteilte Stadt nicht schon früher zu vereinigen vermochte, die aber mit vielen kleinen Schritten das Leben der Menschen im geteilten Deutschland erleichterte und Begegnungen zwischen den Menschen im begrenzten Umfang ermöglichte;
  • Viertens: die gewichtige Rollen der Kirchen in beiden Teilen des Landes und der geteilten Stadt Berlin, die eine ganz wesentliche Brückenfunktion ausübten
  • Fünftens: die europäische Entspannungspolitik, die es beispielsweise den Polen ermöglichte, die Diktatur des Proletariats durch die Massenbewegung der Gewerkschaft „Solidarnosc“ zu brechen, also den Kommunismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen
  • Sechstens: das Phänomen Gorbatschow und die Implosion des Sowjetreiches 

Wenn wir Deutsche also an der Einheit arbeiten, dann müssen wir uns ständig bewusst bleiben, dass sich die Entwicklung hierzulande in sehr viel größere Prozesse einordnet. Das bedeutet, dass wir niemals Nabelschau betreiben dürfen, sondern immer das Ganze im Blick halten müssen. Sonst wird alles schief und krumm.

Ich bin mir sicher, dass die Kellerrunde in den nächsten Jahren ihres Wirkens auch noch stärker den europäischen Aspekt des Einigungsprozesses in ihre Aktivitäten aufnimmt.

Klaus Schütz wird heute darauf noch hinweisen, in welch hohem Masse die deutsche Einheit an die Werte vor allem des Grundgesetzes gebunden ist. Auf dem Weg zur Einheit streben wir permanent nach einer neuen und besseren Gesellschaftsordnung. Die konkrete Gestaltung von Weg und Ziel muss unter gesellschaftlichen Bedingungen, die sich ständig verändern, stets aufs Neue bestimmt werden. Aber einige dieser Werte stehen fest:

  • Freiheit bedeutet das Freisein von entwürdigenden Abhängigkeiten und die Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit in den Grenzen, die durch die Forderungen der Gerechtigkeit und der Solidarität gezogen werden, frei zu entfalten. Freiheit ist jedoch nur dann gesellschaftliche Wirklichkeit, und nicht bloß Illusion oder Vorrecht für Wenige, wenn alle Menschen die tatsächliche wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Möglichkeit der freien Entfaltung besitzen
  • Gerechtigkeit verwirklicht die Freiheit jedes Einzelnen, indem sie ihm gleiche Rechte und gleichwertige Lebenschancen in der Gesellschaft eröffnet
  • Solidarität schließlich ist mehr als die Summe von Einzelinteressen und auch nicht nur eine notwendige Waffe im sozialen Kampf. Solidarität drückt die Erfahrung und die Einsicht aus, dass wir als Freie und Gleiche nur dann menschlich miteinander leben können, wenn wir uns füreinander verantwortlich fühlen und einander helfen. Aus dem Grundwert der Solidarität erwachsen für jeden Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen und gegenüber der Gesellschaft. Sie beruht auf dem bewussten und vernünftigen Einverständnis freier Menschen

Der Freundeskreis der Berliner Kellerrunde hat sich in seinem Denken und in seinen Aktivitäten von diesen Grundwerten leiten lassen. Ich hoffe erneut, in Ihrer aller Namen sprechen zu dürfen, wenn ich sage: diesen Weg wollen wir, die Berliner Kellerrunde, auch in Zukunft in diesem Geiste beschreiten.